Flucht und geschlechtsspezifische Gewalt
Weltweit sind laut Einschätzungen des UNHCRs fast 80 Millionen Menschen auf der Flucht, darunter sind ungefähr die Hälfte der geflüchteten Personen Frauen* und Mädchen*. (Quelle: UNHCR 2020: Global Trends in Forced Displacement in 2019. Verfügbar online: https://www.unhcr.org/globaltrends2019/)
Viele Frauen* und Mädchen* erleben vor, während und nach der Flucht geschlechtsspezifische und sexualisierte Gewalt. Die Betroffenen erleben häufig sich überschneidende (intersektionale) Diskriminierungen und Gewaltformen (u.a. physische, psychische, sexualisierte und institutionelle Gewalt). Nur selten finden intersektionale Perspektiven Eingang in die aktuellen Debatten, um das Thema Flucht und geschlechtsspezifische Gewalt in Deutsch-land.
Istanbul-Konvention
Die Istanbul-Konvention (Übereinkommen des Europa-rats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt) hebt durch Artikel 59 den besonderen Schutzbedarf von Frauen* und Mäd-chen* mit Migrations- oder Fluchterfahrungen her-vor.
Die Bundesrepublik hat jedoch Vorbehalte zu Arti-kel 59 (2) und (3) der Konvention erklärt, sodass die entsprechenden Verpflichtungen derzeit nicht vom deut-schen Staat berücksichtigt werden.
Asylberechtigung
Gewalt und Verfolgung im Herkunftsland können zur Aner-kennung der Asylberechtigung oder (in den meisten Fällen realistischer) zur Zuerkennung des Flüchtlingsschutzes führen. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn die betroffene Person zu einer bestimmten sozialen Gruppe gehört.
Was alles unter einer „bestimmten sozialen Gruppe“ zu verstehen ist, ist bewusst offengehalten. Die Gruppe wird durch ein gemeinsames Merkmal gekennzeichnet, welches aber die Personen nicht miteinander verbinden muss. Darunter fallen zum Bespiel die Verfolgung aufgrund des Geschlechts oder der sexuellen Orientierung.
Asyl und Flüchtlingsschutz sind jedoch ausgeschlossen, wenn es für die betroffene Person eine inländische Fluchtalter-native gegeben hätte. Dies bedeutet, dass die Betroffene in einer anderen Region des Herkunftslandes sicher wäre, sie diese Region sicher und legal erreichen könnte und ihr ein Leben dort zugemutet werden kann. Jedoch erleben die Betroffenen nicht nur im Herkunftsland, sondern auch während der Flucht in Camps geschlechtsspezifische und sexualisierte Gewalt durch Mitarbeiter:innen und andere männliche* Geflüchtete, durch Schlepper:innen oder Sicherheitskräfte.
Diese, teils traumatischen, Gewalterlebnisse während der Flucht oder im Aufnahmestaat führen jedoch nicht zur Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft und auch nicht zu einer Gewährung des subsidiären Schutzes.
Dabei sind besonders Kinder einer höheren Gefahr von geschlechtsspezifischer und sexualisierter Gewalt, Zwangs-verheiratung und Menschenhandel während allen Phasen der Flucht ausgesetzt.
Auch nach der Ankunft in Deutschland können sich Gewalter-fahrungen durch Mitarbeiter:innen und Bewohner:innen der Unterkünfte und/ oder durch Partner:innen fortsetzen. Es gibt für Betroffene die Möglichkeit, beim Familiengericht einen Antrag nach dem Gewaltschutzgesetz zu stellen und zum Beispiel ein Näherungsverbot gegen die gewaltausübende Person zu erwirken.
Dies kann jedoch nicht immer zu einem tatsächlichen Schutz führen. Zum Beispiel, wenn es in einer Kommune keine Möglichkeit einer gesonderten Unterbringung gibt, die gewaltausübende Person und die betroffene Person räumlich zu trennen oder zumindest Zimmer in den Unterkünften nicht abschließbar sind. Oftmals fehlt es innerhalb der Unterkünfte an ausreichend Schutzraum, Rückzugsmöglichkeiten und Privatsphäre für Frauen*, Mädchen* und LSBTIQ*.
Menschen, die im Herkunftsland sexualisierte Gewalt oder geschlechtsspezifische Verfolgung erlitten haben, können die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder des subsidiären Schutzes erhalten.
Geschlechtsspezifische und sexualisierte Gewalt als Asylgrund im Asylverfahren
Mit geschlechtsspezifischer Verfolgung ist u.a. ausgeübte Gewalt durch staatliche und nicht-staatliche Akteur:innen gemeint, welche auf die Geschlechtsidentität oder die sexuelle Orientierung eines Menschen abzielt. Zu dem Begriff „nicht-staatliche Akteur:innen“ zählen auch (Ehe)Partner:innen, Nachbar:innen und andere Personen aus der Gemeinschaft. Ausgeübte Gewalt umfasst u.a. sexualisierte oder häusliche Gewalt, Zwangsheirat, Menschenhandel, drohende Genitalbeschneidung oder Folter. Jedoch muss bei einer Verfolgung von nicht-staatlichen Akteur:innen außerdem festgestellt werden, ob der Staat und seine Organe nicht willens oder in der Lage sind, diese Person vor Verfolgung zu schützen.
Immer wieder kommen die Gerichte zu unterschiedlichen Entscheidungen und Entscheidungsabstufungen. Grundsätzlich gilt daher, dass eine Verallgemeinerung nicht möglich ist und es eine Einzelfallentscheidung bleibt.
Gewaltschutzgesetz und Asyl-verfahren
Das Asylverfahren bezieht sich, wie oben geschildert, primär auf die Beurteilung der Situation im Herkunftsstaat. So haben Gewaltschutzanordnungen keine direkten Auswir-kungen auf das Asylverfahren, jedoch kann die Gewalttätig-keit des Ehepartners das Asylverfahren beeinflussen.
In Einzelfällen kann dadurch (zusätzlich) ein Abschiebe-hindernis für die Betroffene erwirkt werden. Dieses könnte z.B. vorliegen, wenn in Trennungsfällen die Kinder dem ge-walttätigen Partner (zeitweise) entzogen wurden oder werden und dies bei einer (unterstellten) Rückkehr ins Herkunftsland zur Verfolgung der Frau*, durch die Familie des Mannes führen würde. Insbesondere kann dies der Fall sein, wenn (gewohnheits-)rechtlich im Herkunftsland die Kinder zur Familie des Mannes* gehören.
Eine pauschale Aussage kann hier jedoch nicht gegeben werden, da es stark vom Einzelfall abhängig ist. Im Falle einer Gewaltschutzanordnung kann und sollte das Asylver-fahren der Eheleute aber getrennt werden.
Weiterführende Informationen:
Der Bundesverband (bff) hat zu den Themen „Flucht und Ge-waltschutz“ eine ausführliche Zusammenfassung erstellt:
Weitere Informationen zum Thema Frauen* und Flucht in Niedersachsen finden Sie beim Flüchtlingsrat Niedersachsen e.V.